Vogelsang - Bei Nathalies Worten schwiegen die Zuhörer
Die 15-jährige Jugendrotkreuzlerin beeindruckte das Publikum mit eindringlicher Rede bei der Eröffnungsfeier im Rotkreuz-Museum Vogelsang – Abwechslungsreicher Auftakt mit Autorenlesung, Talkrunden, Filmen und Augenzeugenberichten
Vogelsang/Kreis Euskirchen - „Wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise möglich geworden ist!": Als Hans-Dietrich Genscher, damals Außenminister der Bundesrepublik, am 30. September 1989 gemeinsam mit dem Kanzleramtsminister und heutigem DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters, auf den Balkon der Prager Botschaft trat und diesen historischen Satz aussprach, fielen die Menschen sich in die Arme, die Freude war grenzenlos. „Alle im Lager wussten von Genschers Ausreiseverkündung – nur wir nicht“, erinnerte sich Herbert Schmitz. Der Euskirchener „Ur-Rotkreuzler“ und seine Ehefrau Angelika Schmitz gehörten zu den ehrenamtlichen Helfern, die sich auf dem Gelände der Botschaft um die DDR-Flüchtlinge kümmerten. Und zwar so intensiv, dass sie den historischen Moment verpassten. In beeindruckenden Worten berichtete das Ehepaar anlässlich der Saisoneröffnung im Rotkreuz-Museum Vogelsang von seinem Einsatz für das Rote Kreuz, der damals einzigen Hilfsorganisation vor Ort.
Vor allem das von Angelika Schmitz geführte Tagebuch vermittelte den gebannt lauschenden Zuhören eine Ahnung dessen, was den Helfern vor Ort abverlangt wurde. Die Rotkreuzler kümmerten sich um Tausende Flüchtlinge, die das Botschafts-Gelände ohne persönliche Dinge erreichten und versorgten sie mit Essen. So auch Angelika Schmitz, die als Köchin in der für 500 Personen ausgerichteten Lagerküche eingesetzt war und Herbert Schmitz, der unter anderem mit der schier unlösbaren Aufgabe beauftragt war, die völlig unzureichenden sanitären Verhältnisse aufrecht zu erhalten. „An Schlafen haben wir gar nicht mehr gedacht, wir haben rund um die Uhr weitergearbeitet“, antwortete er auf die Nachfrage des Mechernicher Journalisten und Diakons Manfred Lang, der sich selbst auch im Roten Kreuz engagiert und zum dritten Mal die Eröffnungsveranstaltung vor rund 100 geladenen Gästen moderierte.
Wie ein roter Faden zogen sich Vorträge aus dem Buch „Im Zeichen der Menschlichkeit“ durch das zweistündige, aber kurzweilige Programm. Dabei handelt es sich um einen literarischen Streifzug durch die bewegende Geschichte des Roten Kreuzes, der anlässlich des 150-jährigen Rotkreuz-Jubiläums im vergangenen Jahr erschienen ist und die Entwicklung vom Hilfswerk für verwundete Soldaten zur bedeutendsten humanitären Organisation der Welt schildert.
Der Autor, der in Berlin lebende Journalist Stefan Schomann, war zum Museumsauftakt nach Vogelsang gekommen, um Passagen aus seinem Buch vorzulesen und im Gespräch mit Manfred Lang über seine knapp zweijährige Arbeit an dem erzählerischen Werk zu berichten. Bei seinen Recherchen hatten es ihm besonders die vielen Tagebücher, Lebenserinnerungen und Augenzeugenberichte der Menschen angetan, die für die Rotkreuzbewegung durch die Zeiten der Weltkriege bis in die Gegenwart stehen. „Diese Stimmen wollte ich vernehmlich machen“, sagte Schomann.
Mit vielen von ihnen sprach er persönlich, wie etwa mit Hanna Fischer aus Lübeck, die während des Zweiten Weltkrieges als Medizinstudentin in der Lübecker DRK-Schwesternschaft eingesetzt war. Von Angelika Schmitz hingegen kannte er bis dato nur deren bemerkenswerte Notizen. „Ich mag ihr Tagebuch sehr und freue mich jetzt auf den Originalton“, sagte er, bevor die Euskirchener Rotkreuzlerin ans Mikrofon trat und ihre Aufzeichnungen vortrug. „Besser als jeder Fernsehbericht“, schreibt Schomann in seinem Buch, zeichnen ihre Tagebucheinträge vom 19. September bis zum 6. Oktober die „Fieberkurve der Ereignisse“ auf. Ist zunächst noch von „Stimmung wie auf dem Campingplatz“ und „Kasseler + Püree + Sauerkraut“ für 650 Personen die Rede, so spitzt sich die Situation täglich zu: „Frühstück für uns fällt aus, keine Zeit“, „Dritte Küche angefordert und 15.000 Essen mit Getränken“, „Nachts erste große Müllaktion wegen Seuchengefahr“. Stündlich kommen mehr Flüchtlinge, was den Rotkreuz-Helfern ein nahezu biblisches Wunder abverlangt. Und endlich am 6. Oktober: „Wieder in Deutschland. Erste Nacht in einem Bett geschlafen, mehrere Stunden in Ruhe und zusammenhängend.“
Aus einer anderen Epoche berichtete die aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens angereiste Marie-Hélène Düsseldorf, Präsidentin der Rot-Kreuz-Fraktion St. Vith-Reuland, nämlich von ihren Beobachtungen am Ende des Zweiten Weltkrieges. „Die Helfer des Roten-Kreuzes waren die einzigen, die nie gefragt haben: ‚Auf welcher Seite warst du?“ Auch mehrere Berichte von Kreis Euskirchener Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg finden sich in dem Buch wieder, so auch des ehemaligen Hellenthaler Gemeindedirektors Werner Rosen, der 1944 als 20-Jähriger Fahrer eines Sanitätsfahrzeugs war, nach einem Angriff auf den Schleidener Bahnhof beim Verladen der Leichen half und unter den Toten seine Kusine entdeckte.
Mit der historischen Wanderung von der Schlacht von Solferino als Urszene des Roten Kreuzes über den 1. und 2. Weltkrieg bis hin zu den Ereignissen in Prag 1989 war es Organisator und Museumsgründer Rolf Zimmermann und den Mitstreitern des Abends gelungen, den Wertewandel im Roten Kreuz von der Gründung bis heute deutlich vor Auge zu führen.
Das Finale der Eröffnungsfeier gestalteten wieder Jugendrotkreuzler. Schilder hochhaltend, auf denen die größten Kriege der Vergangenheit mit ihren Daten zu lesen waren, schritten sie vorbei an prominenten Gästen, Verbandsfunktionären und Unterstützern des Roten Kreuzes und formierten sich auf der Bühne zum lebenden Mahnmal gegen den Wahnsinn des Krieges.
Mucksmäuschenstill war es, als abschließend die Euskirchener Jugendrotkreuzlerin Nathalie Schwade einen von Laura Zimmermann verfassten Text vortrug. Zu Grunde lag dem Vortrag die „Rede der Kinder auf der Weltklimakonferenz 1992 in Rio de Janiero“, mit der die zwölfjährige Kanadierin Severn Suzuki für sechs Minuten die Welt zum Schweigen brachte. Sie thematisiert die Endlichkeit der Ressourcen auf der Erde, die ungehemmte Ausbeutung des Planeten zu Lasten jetziger und zukünftiger Generationen und betont die Bedeutung kultureller Werte und Erfahrungen.
„Das Rote Kreuz begann 1859 mit dem Ausruf: ‚Tutti Fratelli!‘ Was so viel bedeutet wie ‚Wir sind alle Brüder!‘ Und weil ich an diese Worte glaube, weil ich trotz allem an die Möglichkeit von Frieden glaube und weil ich will, dass wir alle nicht nur reden, sondern anpacken, darum engagiere ich mich im Roten Kreuz! Ich bin nur ein Kind, aber ich bin sicher: ‚Tutti Fratelli – e sorelle!‘, schloss die 15-jährige Nathalie ihren bewegenden Vortrag. Donnernder Applaus belohnte den Rotkreuz-Nachwuchs für den nachdenklich machenden Ausklang zum Auftakt der Saison im Rotkreuz-Museum Vogelsang, einem der größten der insgesamt 17 Museen der Organisation. Bis zum 31. Oktober können sich Besucher dort über die weltweite humanitäre Hilfe des Roten Kreuzes informieren. Neben den Dauerausstellungen zu diesem Thema sowie zum Menschenrecht und humanitären Völkerrecht gibt es die Sonderausstellungen „Umweg Prag - Die Prager Botschaftsflüchtlinge im Herbst ´89“ und die Fotodokumentation „Kinder unserer Welt“ mit beeindruckenden und bedrückenden Aufnahmen von Rotkreuzhelfern aus aller Welt.
pp/Agentur ProfiPress