Euskirchen - „26 Lücken ins Leben gerissen“
Am Jahrestag der Flut: Feierstunden vor dem Kreishaus und in der Euskirchener Herz-Jesu-Kirche unter starker Rotkreuz-Beteiligung – Bundes- und Ministerpräsident sowie zwei Innenminister gedachten mit Rettern und Opfern – Stele enthüllt
Euskirchen – Auch in der am 14. Juli 2021 schwer vom Hochwasser verwüsteten Kreisstadt Euskirchen wurde am Jahrestag der 26 Todesopfer im Kreis Euskirchen gedacht. In einem vor dem Kreishaus enthüllten Stahlrelief aus der Hosteler Metallbau-Spezialwerkstatt von Willi und Dirk Müller werden sie durch Lücken symbolisiert.
Das Ganze fand auf Einladung des Rotkreuz-Schirmherrn und Landrats Markus Ramers unter starker Beteiligung des Roten Kreuzes, allen voran Kreisgeschäftsführer Rolf Klöcker und Thomas Heinen, statt. Aber auch der Blutspendedienst um Edeltraud Engelen war im Einsatz und beköstigte die rund 200 geladenen Gäste.
Die das Denkmal entwerfende Künstlerin Anna von Laufenberg sagte: „26 Menschen verloren im Kreis Euskirchen durch die Flut ihr Leben. Sie hinterlassen Lücken dort, wo sie heute besonders vermisst werden: in ihren Familien, in ihren Freundeskreisen, an ihren Arbeits- und Ausbildungsorten.“
Mitgefühl und Solidarität galten am Donnerstag bei Feiern mit staatlichen Repräsentanten wie Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier, Ministerpräsident Hendrick Wüst und den Innenministern Nancy Faeser (Bund) und Herbert Reul (Land) in der Herz-Jesu-Kirche und vor dem Kreishaus auch den Hinterbliebenen der Toten und Tausenden schwergetroffenen und traumatisierten Menschen im Kreis, die die Jahrhundertflut im Kreisgebiet hinterlassen hat.
Kann sich wiederholen, was das Leben vieler Anrainer der Bach- und Flussläufe, aber auch Tausender privater freiwilliger Helfer und Angehörigen der Rettungsorganisationen für immer verändert hat? „Ja“ lautete die schnörkellose Antwort der Bundesinnenministerin bei der Feierstunde vor dem Kreishaus.
Bevölkerungsschutz wiederbeleben
Jederzeit – und zwar aufgrund der weltweiten, offenbar von Menschen verursachten klimatischen Umwälzungen. Deshalb müssten Frühwarn- und Alarmierungssysteme modernisiert und der im Dornröschenschlaf versunkene Bevölkerungsschutz aus der Zeit des Kalten Krieges wiederbelebt und reaktiviert werden, so NRW-Innenminister Reul, Nancy Faeser und der Euskirchener Landrat Markus Ramers.
Die drei enthüllten zusammen mit der aus Mechernich-Lückerath stammenden Grafikerin Anna von Laufenberg vor dem Kreishaus eine Gedenkstele, die fortan an die 26 Todesopfer erinnert, die die Flutkatastrophe allein im Kreis Euskirchen forderte.
„Hier am Kreishaus, wo Tausende Notrufe eingegangen sind und von wo aus die Rettungseinsätze koordiniert wurden“, sei der richtige Ort, in einem würdevollen Rahmen der Opfer zu gedenken, betonte Landrat Markus Ramers.
Scharfkantige Gebilde im oberen Bereich des Kunstwerks symbolisieren die Trümmer, die die Flut in den Orten hinterlassen habe – organische Formen im unteren Teil visualisierten das Wasser, „das sich mit erschreckender Kraft seinen Weg gebahnt hat und dessen Spuren auch heute noch vielerorts zu sehen sind“, erläuterte die Künstlerin, was sie in ihrem Entwurf darstellen will.
Gefertigt wurde die Stele aus rostendem Stahl von dem Hosteler Metallbauspezialbetrieb der Meister Willi und Dirk Müller. Sie hatten mit ihrem Team bereits 2021 zwei Reliefentwürfe der früheren Lückeratherin Anna Lang (37) umgesetzt, die vor der Wallfahrtskirche St. Georg in Kallmuth und vor dem Mechernicher Rathaus stehen. Das eine zeigt in einer Stilisierung der in Kallmuth verehrten Pieta „Maria, die geerdete »Schmerzhafte Mutter« als Trösterin der Entrechteten und der Geknechteten dieser Welt“.
Die abstrakte Stele in Mechernich gemahnt an alle Opfer von Krieg, Terror und Gewalt und gilt als erstes Denkmal im weiten Umland, das sich auf Anregung des Buchautors und Journalisten Franz-Albert Heinen speziell auch der fast vergessenen russischen und polnischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen annimmt, die im linksrheinischen Teil von Nazideutschland umgebracht wurden.
Anna Lang lernte nach dem Abitur am Turmhof-Gymnasium Mechernich an der Glasfachschule Rheinbach Grafik und Design, ehe sie an der Bergischen Universität Wuppertal Gestaltungstechnik, Anglistik und Kunst studierte. Die heute in Nörvenich Lebende unterrichtet am Nelly-Pütz-Berufskolleg Düren.
Zahlreiche Vertreter von Rotem Kreuz, Feuerwehr, THW und den Hilfsorganisationen waren auf Einladung von Landrat Markus Ramers zur Gedenkstunde vor das Kreishaus gekommen. Es waren Vertreter derer, die in der schrecklichen Nacht auf den 15. Juli 2021 und in den Tagen und Wochen danach alles getan hatten, um den Menschen in den Tälern und entlang der Flussläufe bis in die Börde hinein zu helfen.
Held vom Steinbachdamm
Viele riskierten dabei ihr eigenes Leben, wie der Baggerführer, Landwirt und Unternehmer Hubert Schilles, der mit seinem Zwillingsbruder Peter Schilles zur Gedenkfeier gekommen war. Seit er den verstopften Grundablass der überlaufenden Steinbachtalsperre bei Euskirchen-Kirchheim mit seiner Baggerschaufel wieder freilegte und Tausende entlang von Steinbach und Erft vor Schlimmerem bewahrte, verbindet NRW-Innenminister Herbert Reul und den Floisdorfer eine herzliche Verbindung.
Das wurde auch bei der Feierstunde am Donnerstag von Reul zur Sprache gebracht. 26 Menschen hätten im Kreis Euskirchen in der Flutnacht ihr Leben verloren, so der Minister: „Dass es nicht mehr geworden sind, ist das Verdienst der Helfer. Die Not war groß, aber die Hilfsbereitschaft noch größer…“
Den Dank der Bundesregierung richtete Nancy Faeser aus – und erklärte vor den vollbesetzten Reihen der uniformierten Vertreter der Hilfs- und Rettungsorganisationen: „Sie alle sind Helden.“
„Wir sollten uns viel mehr auf die konzentrieren, die etwas tun“, betonte Herbert Reul: „Sie sind mehr wert als die, die nachher alles besser wissen und genau sagen können, wer was schuld ist.“ Der Journalist Thorsten Wirtz (Rheinische Redaktionsgemeinschaft) schreibt: „Bei allen Bemühungen um Wiederaufbau und mehr und besseren Katastrophenschutz warnte Reul, der die Realität im Katastrophengebiet und in seiner ebenfalls vom Hochwasser getroffenen Heimatstadt Leichlingen vor Augen hat, vor übereilten »schnellen Antworten«“. Rufen nach mehr Zentralisierung erteilte er eine Absage.
Nancy Faeser befand hingegen, das gemeinsame Kompetenzzentrum beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sei ein erster Schritt: „Schnell reagieren, schnell warnen, schnell helfen“ seien die Ziele. Und: „Der effiziente Schutz der Menschen muss im Vordergrund stehen – und nicht Zuständigkeits- oder Verwaltungsfragen.“
Schreiber: 45 Neuanmeldungen
Die Katastrophe und die ihr folgende Welle der Hilfsbereitschaft hat auch bei den Rettungsorganisationen deutliche Spuren hinterlassen. Allein in Mechernich haben sich seither 45 neue Interessenten für den Beitritt in die Freiwillige Feuerwehr gemeldet, sagte Stadtwehrführer Jens Schreiber am Jahrestag in einem Fernsehbeitrag. Nie war der Zuspruch aus der Bevölkerung für Feuerwehr, Rotes Kreuz & Co größer als nach dem 21. Juli
„Was wir vor Ort leisten können, tun wir gerne“, erklärte Markus Ramers. 95 Prozent der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr zwischen Ville und Venn würden ehrenamtlich geleistet: „Von Menschen mit Herz und Verstand. Sie sind das Herz unseres Bevölkerungsschutzes!“
Nach der Gedenkstunde vor dem Kreishaus haben unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in der örtlichen Herz-Jesu-Kirche der mehr als 180 Opfer der Flut in NRW und Rheinland-Pfalz gedacht. Es sei ein Tag „des Innehaltens und der Trauer“, sagte der Bundespräsident im Anschluss an einen Ökumenischen Gottesdienst zum ersten Jahrestag der Katastrophe.
An der Gedenkfeier nahmen auch zahlreiche Angehörige der Opfer teil. „Wir trauern gemeinsam und vereint. Mir war es wichtig, heute hier bei Ihnen zu sein. Als Bundespräsident möchte ich Ihnen sagen: Sie sind nicht allein“, so Steinmeier. Die furchtbare Zerstörung, die das Wasser zurückließ, sei bis heute sichtbar, er habe vor der Leistung des Wiederaufbaus enormen Respekt. Er könne sich aber auch vorstellen, dass manche das Gefühl hätten, dass vieles zu langsam vorangeht. „Einiges ist nicht gut gelaufen“, räumte Steinmeier ein.
„Wir müssen jede, aber auch wirklich jede Anstrengung unternehmen, um die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen, und wir müssen viel umfassender Vorsorge treffen, um unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen“, sagte der Bundespräsident in Euskirchen.
Der Toten in NRW wurde mit 49 Glockenschlägen gedacht. Die Bilder von den unbändigen Kräften der Natur hätten sich „für immer in das kollektive Gedächtnis eingebrannt“, sagte Ministerpräsident Hendrik Wüst und erwähnte die „Flutprotokolle“ von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Kölnischer Rundschau“, die aufgezeigt hätten, was das Hochwasser mit den Menschen gemacht habe. Der Ministerpräsident kündigte an, dass NRW einen Gedenkwald mit 49 Bäumen pflanzen will.
Lücken zwischen Wasser und Trümmern
Gerhard Voogt schreibt auf der Titelseite des „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Das Hochwasser am 14. und 15. Juli 2021 richtete in NRW in mehr als 180 Städten und Gemeinden große Schäden an. Besonders schwer wurden der Kreis Euskirchen, die Städteregion Aachen, der Rhein-Erft-Kreis, Leichlingen, der Märkische Kreis sowie die Stadt Hagen getroffen.“
„In NRW starben 24 Menschen in den Fluten, 25 Menschen in Gebäuden, so Voogt weiter: Viele hatten ihre Habseligkeiten retten oder nachsehen wollen, welche Schäden die Flut angerichtet hatte. Auch vier Feuerwehrmänner starben.“ Im Kreis Euskirchen wurden 26 Frauen, Männer und Greise getötet, das jüngste Opfer war 18. Der Sachschaden im Kreisgebiet wird auf eine Milliarde Euro geschätzt.
In Anna von Laufenbergs Gedenkstehle finden sich organische und mineralische Formen, „scharfkantige Gebilde im oberen Bereich stellen Trümmer dar - unterspülte Gebäude, zerstörte Autos, aufgerissene Straßen, entwurzelte Bäume, eingestürzte Brücken“, erklärte die Grafikerin zu ihren gestalterischen Überlegungen für die Gedenkstele.
Die organischen Formen im unteren Bereich visualisierten das Wasser, das sich mit erschreckender Kraft seinen Weg gebahnt habe und dessen Spuren auch heute noch zu sehen sind: „Schaut man nicht auf die Form selbst, sondern auf die Leerstellen, die sich zwischen den Formen bilden, kann man die Lücken ausmachen…“
pp/Agentur ProfiPress