Euskirchen - Geschichten von Heimatlosen
Geschichten von Heimatlosen Die „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ waren im Café Henry des Deutschen Roten Kreuzes zu Gast – Lesung und Musik im Rahmen der interkulturellen Wochen des Kreises
Euskirchen – Es ist eine bewegende Geschichte, die Ozan Ata Canani im Café Henry des Deutschen Roten Kreuzes erzählt. Der türkisch-stämmige Musiker, ein Teil der Autoren-Gruppe „Daughters and Sons of Gastarbeiters“, berichtet von einem Erlebnis, das er kürzlich bei einem Konzert hatte.
Beim Lied „Warte, mein Land“, in dem es darum geht, dass ein Gastarbeiter in sein Heimatland zurückkehren will, er aber dann erst nach seinem Tod dort begraben wird, hat eine Konzertbesucherin zu Tränen berührt. „Die Frau kam nach dem Konzert zu mir, umarmte mich, und weinte wieder“, erzählt Canani.
Denn „Warte, mein Land“ erinnerte an ihre eigene Geschichte. Ihr Vater habe immer gesagt, dass er zurück nach Griechenland ziehen wollte. Erst wenige Wochen vorher habe man ihn, wie den Erzähler im Lied, im Sarg in die Heimat transportiert – zur letzten Ruhestätte. „Ich habe den einzigen Wunsch im Leben meines Vaters verwirklicht“, sagte die Frau dem Sänger in dem bewegenden Moment.
Ozan Ata Canani ist der dritte Künstler, der an diesem Abend auftritt – und zwar im Rahmen der interkulturellen Wochen im Kreis Euskirchen. Seiner Baglama, einer Langhalslaute, entlockt er spannende, mitreißende Sounds. Dazu singt er arabisch gefärbte Lieder in deutscher Sprache, darunter auch „Deutsche Freunde“, das er in den 1980er-Jahren in der Alfred-Biolek-Sendung „Showbühne“ im Fernsehen vorgetragen hat. Am Ende singt auch das Publikum mit: „Alle Menschen dieser Erde“, in dem es darum geht, dass Menschen glücklich sein wollen.
Vor fünf Jahren haben sich die „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ zusammengefunden. Judith König vom Kommunalen Bildungszentrum im Kreis Euskirchen war bei der Vorbereitung auf die interkulturellen Wochen auf das offene Literaturkollektiv gestoßen – und verpflichtete es für die Lesung im Café Henry. „Es ist die erste Autorenlesung im renovierten Mehrgenerationenhaus“, sagte Sabine Heines von der Integrationsagentur des Roten Kreuzes.
Ohrfeige vom Vater
Erster Autor war Abdulvahap Cilhüseyin. In seinem Buch „Eine türkische Geschichte“ widmete er sich den Leben seiner Großmutter, die Anfang der 60er-Jahre als eine der ersten Gastarbeiterinnen nach Deutschland kam. Er berichtet von den Widrigkeiten, wie ihr Vater sie ohrfeigte, als sie ihm ihren Entschluss mitteilte, und wie sie ihre drei Kinder und ihren Mann zurückließ.
In Deutschland hatte sie drei Jobs gleichzeitig, arbeitete bei der Deutschen Bahn, in einer Suppenküche und als Putzfrau. Tag und Nacht schuftete sie, sie lebte in einer zur Einzimmerwohnung umgebauten Abstellkammer. Auf die heutige Zeit umgerechnet 30.000 Euro benötigte sie, um ihre Kinder von ihrem Mann freizukaufen. Außerdem organisierte sie einen Hilfstransport in die Türkei. Einen kompletten Bahnwaggon mietete sie und füllte ihn mit brauchbaren Dingen, die die Deutschen weggeworfen hatten.
Dritte im Bunde war die Sprecherin des Literaturkollektivs, Dr. Cicek Bacik. Sie berichtete in ihrer Geschichte „Das Fenster zum Hof“ über ihre Kindheitserinnerungen in einem Wohn-Ghetto in Berlin-Spandau. „Meine ersten Jahre habe ich in der wunderschönen Natur in der Türkei verbracht. Ich war sehr enttäuscht, als ich nach Deutschland kam“, erzählt sie.
Zwei Geschwister hatten die Eltern früh mitgenommen, sie und ihren Bruder aber erst in der Türkei zurückgelassen und 1980 nach Berlin geholt. „Jedes Flugzeug, das in Tegel zur Landung ansetzte, flog durch unser Wohnzimmer hindurch“, ist einer der schönsten Sätze in ihrer Geschichte. Mit sechs Leuten lebte die Familie in einer Einzimmerwohnung. Bacik berichtet von ihrer aufkeimenden Freundschaft zu einem einsamen deutschen Physikstudenten, der ebenfalls in dem Haus wohnte und mit dem sie sich als Teenager über Literatur und Politik austauschte.
Den meisten Gastarbeitern und ihren Kindern, egal in welcher Generation sie in Deutschland leben, sprechen diese Geschichten aus der Seele. „Ich bin 1978 nach Köln gekommen und bin mehr Kölner als Türke“, erzählt Ozan Ata Canani, in dessen Text zu „Deutsche Freunde“ diese Heimatlosigkeit der Gastarbeiter thematisiert wird: „Ich frage mich, wo wir jetzt hingehören.“ An diesem Abend im Café Henry war die Frage einfach zu beantworten, denn die „Daughters and Sons of Gastarbeiters“ boten den Zuhörern für rund anderthalb Stunden eine literarische und musikalische Heimat.
pp/Agentur ProfiPress