Ghana - Jugendrotkreuzlerin für ein Jahr in Afrika (8)
Hier der achte "Bericht" unserer Jugendrotkreuzlerin Cathryn Bassett, die für ein Jahr in Afrika lebt, um dort in einem Krankenhaus mitzuhelfen. Diesmal als Kurzgeschichte, wie es mit Kwame Tettey weiterging...
Kwame Tettey, Der Junge der in der Küche lebt - Teil 2
Eine Kurzgeschichte
Ich schaue aus dem Fenster. Draußen sehe ich die Landschaft an uns vorbei ziehen. Es ist noch früh. Der morgendliche Nebel hängt über der Straße und die frische Luft schlägt mir kühl entgegen. In ein paar Stunden wird sich der Nebel verzogen haben und die Sonne scheinen. Es wird ein heißer Tag werden, genau wie gestern und vorgestern und all die Tage davor. Wir fahren in einem alten Tro Tro auf einer holprigen Straße Richtung Süden; vorbei an kleinen Dörfern, Häusern, Wäldern, Plantagen, Menschen und spielenden Kindern.
Alles hier ist so anders, als daheim in Deutschland. Doch es fällt mir zunehmend schwer den eigentlichen Unterschied auszumachen. Nach mehr als sieben Monaten ist das Leben in Ghana für mich zur Normalität geworden. Zeit, Entfernung und die Vorstellung vom sozialen Umgang mit einander haben eine neue Bedeutung bekommen. An mein Leben in Deutschland erinnere ich mich mehr und mehr wie an eine Reise, die ich vor langer Zeit einmal gemacht habe und nicht wie an die Realität, in die ich in weniger als vier Monaten zurückkehren werde. Ghana ist jetzt meine Realität. Mit den Händen meine Wäsche waschen, Autos ohne Sicherheitsgurte, Tro Tros, bunte Häuser aus Lehm und Wellblech, Palmen, Kakao-und Bananenplantagen, am Straßenrand Frauen, die große Schüsseln auf dem Kopf und Kinder auf dem Rücken tragen und ihre Waren auf den Straßen verkaufen - all das ist jetzt mein Alltag.
Ein tiefes, gleichmäßiges Atmen zu meiner Linken lässt meinen Blick vom Fenster schweifen. Auf dem Platz neben mir schläft Eddy, mein Projektpartner und Mitbewohner. Erst jetzt bemerke ich meine eigene Müdigkeit. Eine harte Woche liegt hinter uns. Nach monatelanger, ergebnisloser Suche nach einem Waisenhaus für Terttey war endlich ein bisschen Schwung in die Sache gekommen und plötzlich ging dann alles sehr schnell …
…Knapp eine Woche zuvor hatte ich zum ersten Mal in der „Hand in Hand Community“ in Nkoranza im Norden Ghanas angerufen. Die „Hand in Hand Community“ in Nkoranza wurde 1990 von der niederländischen Tropenärztin Ineke Bosman gegründet und kümmert sich seitdem, als eine der wenigen Einrichtungen in Ghana, um Kinder und Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Ich war im Zuge meiner Arbeit mit Tettey, dem Jungen aus der Küche der Childrens Ward, auf diese Einrichtung aufmerksam geworden und man hatte mir gesagt, dass der niederländische Direktor Dr. Albert van Galen, in der Zeit von März bis April dort anwesend sei.
Bei meinem Telefonat mit eben diesem, sicherte man mir einen Termin für eine Review des Jungen zu, welche in den Tagen um den 1. April erfolgen sollte und stellte mir sogar eine mögliche Aufnahme Tetteys in Aussicht.
Ab diesem Moment gab es für mich kein Halten mehr; der 1. April würde bereits nächste Woche sein und es gab daher noch so viel zu organisieren. Wie sollten wir reisen? Gab es eine Möglichkeit mit einem Privatauto des Hospitals zu fahren? Wo würden wir schlafen? Ich musste mit Schwester Fatima sprechen, die Tettey so lange unter ihre Fittiche genommen hatte und mit Sister Edwina, der Leiterin der Childrens Ward. Der Vater von Tettey musste informiert werden, da er als Vormund des Jungen unbedingt mit nach Nkoranza fahren musste und jemand musste Tettey‘s Habseligkeiten zusammen packen.
Die darauf folgenden Tage verbrachte ich fast ausschließlich mit der Klärung der wichtigsten Fragen und den Reisevorbereitungen. Meine Nerven lagen blank und vom Vater hatte ich auch keine Hilfe zu erwarte. So waren diese Tage hauptsächlich von Stress und Frustrationen geprägt, denn: „Wie reist man mit einem behinderten Kind?” und vor allem: „Woher sollte ich das wissen?”. Einen Tag vor der Abreise, als die ganze Sache drohte mir aus dem Ruder zu laufen und die Welle der Frustration ihren Höhepunkt erreicht hatte, bekam ich schließlich Hilfe von ungeahnter Seite.
Mein Projektpartner Eddy bot mir an, Tettey, seinen Vater und mich auf unserer Reise zur „Hand in Hand Community“ zu begleiten. Eine echte Überraschung, denn unser Verhältnis war in den vergangenen sechs Monaten doch eher schlecht als recht gewesen. Für mich war es in diesem Moment jedoch der feine Silberstreifen am Horizont, auf den man nach einer schon viel zu lang dauernden Nacht gewartet hat. Es ging also endlich wieder bergauf. Ich war noch im Rennen!
Die Aufregung kam am Abend. Wird alles gut gehen? Was geschieht mit Tettey? Haben wir eigentlich eine Alternative? Meine größte Sorge galt jedoch Tetteys Vater. Die Abreise war nach langem Hin und Her für die Nacht des folgenden Tages geplant. Wird der Vater zum vereinbarten Zeitpunkt auftauchen? Denn er hatte sich in den letzten Tagen, während der Planung, als sehr unzuverlässig herausgestellt und seine Anwesenheit war für unser Unterfangen nun mal eine Notwendigkeit, mit der letztendlich alles stehen oder fallen würde. Doch ich wusste, dass ich für die Beantwortung dieser letzten, entscheidenden Frage wohl oder übel bis zur letzten Sekunde zittern und hoffen müsste.
Am darauf folgenden Tag, einem Donnerstag, war es mit meiner Konzentration dann ganz vorbei. Auf der Arbeit im Theatre, wurde ich deshalb zum Verbände falten abgestellt und auch die anderen Volunteers, mit denen ich mich am Nachmittag getroffen hatte, bemerkten schnell mein abwesendes Verhalten. Deshalb ging ich an diesem Tag, nach einem letzten, kurzen Briefing mit Eddy, zeitig ins Bett. Immerhin, schließlich mussten wir in dieser Nacht schon um halb zwei wieder aufstehen, um den Bus in Richtung Kumasi um drei Uhr zu erwischen. Um 2.45 Uhr kamen Eddy und ich verschlafen und gespannt vor der Childrens Ward des St. Domenics Hospital an. Genug Zeit, um sich noch einmal zu setzen und Alles ein letztes Mal in Gedanken durchzugehen.
Tettey war bereits geweckt worden und seine Sachen reisefertig gepackt. Sogar der Vater war da! Wie mir die Nachtschwester erzählte, hatte ihn Sister Edwina höchstpersönlich am Vorabend von seiner Wohnung in der Stadt hoch ins Krankenhaus gezerrt und ihn gezwungen auf der Childrens Ward, bei seinem Sohn zu übernachten. An dieser Stelle: “Danke Sister Edwina. Me dase paa“. Zwanzig Minuten später saß unsere kleine Reisegruppe im MetroMass Bus; eingezwängt mit Kind und Gepäck ging es über (mit unzähligen Schlaglöchern gespickte) Staubpisten Richtung Kumasi. Die Fahrt verlief, abgesehen von einer mittel großen Sauerei, die Eddy und ich veranstalteten, als wir versuchten Tettey während der Fahrt mit Brei zu füttern, problemlos. Tettey hatte seinen Spaß. Von Kumasi aus nahmen wir einen Tro Tro Richtung Nkoranza.
Nach 12 Stunden Reisezeit erreichten wir dann verschwitzt, müde und klebrig von der Aktion mit dem Brei, Nkoranza. Tettey war in den letzten Stunden zunehmend knatschig und verstimmt gewesen, was ich ihm nach dieser “Mammutreise” auch nicht verübeln konnte. Die Fahrt hatte uns allen übel mitgespielt. Die allgemeine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Das änderte sich jedoch schlagartig, als wir das Gelände der „Hand in Hand Community“ erreichten. Dort wurden wir bereits erwartet und vom Communityleiter Albert herzlichst willkommen geheißen.
Das Gelände der Community übertraf meine kühnsten Erwartungen! Zwar hatte ich schon damit gerechnet, dass die „Hand in Hand Community Nkoranza“ nicht mit einem gewöhnlichen ghanaischen Waisenhaus zu vergleichen sein wird, aber das man sie fälschlicherweise mit einem Ferienresort hätte verwechseln können, haute mich gewissermaßen aus den Socken.
Auch Tettey bekam die Vorzüge und neuen Annehmlichkeiten sofort zu spüren. 16.00 Uhr bedeutet in der „Hand in Hand Community“: “Pool Time” und Tettey wurde auch gleich eingeladen dabei zu sein. Während er also mit den anderen Bewohnern der Community im hauseigenen Pool planschte und sein Missmut wie weggeblasen schien - ich hatte ihn bis dato noch nie so vergnügt gesehen - bezogen Eddy und ich das gerade neu eingerichtete Guesthouse. Als ich danach versuchte, Tettey nach nun doch knapp 14 Stunden endlich ins Bett zu bringen, war dieser immer noch so aufgeregt und happy, dass es vermutlich einfacher gewesen wäre, einen Teenager im Cola-Rausch zum Schlafen zu überreden, als diesen kleinen Kerl. Ich schaffte es mit etwas Geduld dann aber doch und so konnte auch ich endlich zum entspannten Teil des Tages übergehen.
Am nächsten Morgen, nach einem ausgiebigen Frühstück bat mich Albert zum Gespräch, um das ich am Vortag ausdrücklich gebeten hatte. Da sich der Vater seit unserer Ankunft darum bemüht hatte, sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu rücken und sich sozusagen, als “Übervater” versuchte darzustellen (was er eindeutig weder war, noch ist, noch je sein wird), hatte ich den begründeten Verdacht, das er dies auch im Gespräch mit der Communityleitung tun würde und damit die Aufnahme des Jungen unnötig erschweren könnte. Deshalb war es mir wichtig die Situation Tetteys auch aus meiner Sicht noch einmal Schildern zu dürfen. Allem Anschein nach hatte meine Version der Geschichte die Leitung der Community letzten Endes dann doch mehr überzeugt, denn etwa zwei Stunden später fiel die Entscheidung:
Aufgenommen!
Was sonst noch gesagt wurde, bekam ich nicht mehr mit. Ich heulte. Ich heulte vor Freude. Hemmungslos und in aller Öffentlichkeit. Ich heulte mir die ganze Anspannung, den Stress, die Angst des Versagens und die Frustrationen der vergangenen fünf Monate Waisenhaussuche von der Seele. Ich heulte und lachte zur selben Zeit. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich wollte rennen und rennen und tanzen und schreien, solange bis ich nicht mehr hätte rennen und schreien und tanzen können. Ein Gefühl, was ich nicht beschreiben kann. Ein Gefühl, dass sich nicht beschreiben lässt.
Doch ab diesem Moment trat ich auch meinen Rückzug an. Den Rückzug aus Tetteys Leben, in dem ich ab sofort nur noch eine Rolle hinter den Kulissen spielen würde. Jemand der beobachtet und die Fäden zieht. Sein neues Leben war nun die Community. Eine Familie, ein Leben frei von den Gittern des Gitterbettchens; ein Leben, dass es Wert ist gelebt zu werden, mit Leuten die ihn lieben wie er ist. Das zu sehen und zu begreifen, war eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens.
Jetzt konnte ich mich auf mich konzentrieren und die Zeit im “Holiday Resort” der „Hand in Hand Community“ genießen. An diesem Abend lernte ich Suzanna kennen, eine Volontärin aus den Niederlanden, die ab sofort in der Community arbeiten würde. Wir verstanden uns auf Anhieb und sie lud Eddy und mich auch gleich zu einem selbst gekochten Essen ein. Insgesamt wurde es ein sehr sehr lustiger Abend, was Eddy und mich auch letztendlich dazu veranlasste, unsere für den nächsten Tag geplante Abreise über den Haufen zu werfen und die Vorzüge der Community noch einen Tag länger auszukosten.
So reiste Tetteys Vater gestern ohne uns ab; sehr zu meinem Gefallen, denn schließlich hatte ich nie groß versucht, meine Abneigung ihm gegenüber zu verbergen. Heute Morgen um fünf haben wir uns dann schließlich auch auf den Weg gemacht. Ich habe fest versprochen, die Community vor meiner Heimreise nach Deutschland noch einmal zu besuchen. Darauf freue ich mich jetzt schon. Vielleicht kommt Eddy mit? Ich glaube ihm hat es dort auch gefallen. Auf jeden Fall werde ich mich noch bei ihm bedanken müssen. Ohne ihn hätte ich die Fahrt vielleicht nicht geschafft?
Trotzdem: die Arbeit ist noch nicht vorbei. Jetzt geht es darum, eine Patenschaft für Tettey zu übernehmen. Außerdem muss ich Glovo anrufen, die Organisation hier in Ghana, die mir während der ganzen Waisenhaussuche zur Seite gestanden hat und sich nach meiner Abreise, in meiner Abwesenheit um Tettey mitkümmern wird …
… Der Fahrer bremst. Der plötzliche Ruck und das laute Hupen des Tros reißen mich aus meinen Gedanken und bringen mich zurück in die “ghanaische” Realität. Ich schaue mich um. Eddy ist wach. Ich sehe eine Horde Ziegen die Straße überqueren. Der Trofahrer fährt an und gibt Gas. In drei Stunden werden wir in Kumasi sein und in acht, endlich zu Hause…
Links:
<link http://www.operationhandinhand.nl/engels.htm>www.operationhandinhand.nl/engels.htm</link>
<link http://www.glovo.org/>www.glovo.org</link>